Armutstourismus oder Entwicklungshilfe? Slum-Tour in Jakarta
Mit Jakarta Hidden Tours kannst du einige der ärmsten Viertel der indonesischen Hauptstadt besuchen. Hier findest du einen Erfahrungsbericht zur Slum-Tour – inklusive Auseinandersetzung mit der Moral-Frage.
Inhaltsverzeichnis
Wer an Indonesien denkt, träumt von abenteuerlichen Vulkanbesteigungen, von Trekkingtouren durch sattgrüne Reisfelder oder von entspannten Spaziergängen entlang einsamer Sandstrände.
Überfüllte Megacities mit dicht an dicht gedrängten Blechhütten ohne Stromversorgung und fließendes Wasser passen so gar nicht in dieses Bild. Dass dies aber Alltag für viele Menschen in der Supermetropole ist, wird einem selten so deutlich, wie an einem Tag mit Ronny und Anneke in den Armenvierteln Jakartas.
Jakarta Hidden Tours entstand durch die Idee von Ronny Poluans, den Besuchern der indonesischen Hauptstadt das aus seiner Sicht „wahre“ Jakarta zu zeigen. Dazu führt der Dokumentarfilmer an jene Orte seiner Heimatstadt, an die sich die meisten Bewohner eher selten verirren, geschweige denn Touristen.
Ronny bietet insgesamt drei unterschiedliche Touren zu den Themen „Social Humanity“, „Art, Culture, Media“ und „Environment & Technology“ an. Wenn du die Tour „Social Humanity“ buchst, startet der Tag um 8 Uhr in einem Restaurant nahe des Taman Fatahillah, Jakartas historischem Zentrum.
Die Guides sind Ronny und seine Frau Anneke. Das Ehepaar nimmt sich viel Zeit für das persönliche Kennenlernen, erzählt von sich und stellt Fragen zum Leben in Deutschland und Europa.
Die eigentliche Führung beginnt mit einem Exkurs in die Kolonialzeit in der Altstadt Kota Tua und verläuft durch das Hafenviertel im Norden Jakartas. „In Jakarta, you can get on and off the bus anywhere you want“, verspricht Anneke und ehe du verstehst, wie das funktioniert, schaukelst du zwischen den Javanern durch die vollgestopften Straßen Jakartas.
Beim Stop an der offensichtlich wohlhabenden Wohnsiedlung Pluit erklärt Ronny, dass hier vor allem jene chinesischen Geschäftsleute ihre Einfamilienhäuser errichten, die gerne unter ihres Gleichen bleiben und daher großen Wert auf umzäunte Grundstücke legen.
Im Bajaj, einer Art indonesischen Tuk-Tuks, geht es weiter zum nahe gelegenen Waduk Pluit. Bereits von weitem ist ersichtlich, warum Ronny und Anneke entlang dieses Stausees führen. In den 90er Jahren begann die mittellose Bevölkerung hier improvisierte Welldachhütten zu errichten, aus denen sie seither immer wieder vertrieben werden – entweder von den Überschwemmungen des Stausees in der Regenzeit oder von der Stadtverwaltung, die die illegal auf Staatseigentum errichteten Behausungen aus Sicherheitsgründen räumen lässt.
Nichts ist hier auf Dauer angelegt. Wände und Dächer sind aus Wellblech zusammengehämmert oder mit Ziegelresten improvisiert, die schmalen Wege sind nichts weiter als verdichteter Bauschutt. Zu Fuß geht es weiter durch Muara Baru Depan. Der Kontrast zu den schicken Einfamilienhäusern könnte hier nicht größer sein. Einige der Bewohner bestreiten ihren Lebensunterhalt damit, den Abfall von Jakartas Straßen zu sammeln und nach Dingen zu durchsuchen, die sich noch nutzen oder verkaufen lassen.
Wie überall in Südostasien findet das Leben auf der Straße statt: Kinder rennen über die unbefestigten Wege, die Mütter sitzen zusammen und quatschen. Vor einem Haus hantiert ein Mann mit einer Nähmaschine, ein anderer flickt eine Holzkonstruktion. In einem improvisierten Kiosk kauft Anneke Süßigkeiten für die Kinder aus der Nachbarschaft, die den ungewöhnlichen Besuch neugierig begrüßen. Auch die Erwachsenen wirken interessiert und grüßen freundlich lachend. Hier und da plaudern Ronny und Anneke mit den Bewohnern.
Ein handbetriebenes Floß führt über den Kanal nach Luar Batang, wo die Stadt erst kürzlich ein Wohnquartier in Fertigbauweise errichten ließ, um zumindest einigen Bewohnern eine Alternative zu den illegalen Bauten am Rande des Stausees zu ermöglichen. In den Einzimmerquartieren mit elektrischen Anschlüssen und Zugang zu gemeinschaftlichen Waschräumen sind vor allem junge Familien untergebracht. Ronny führt durch die offensichtlich gerade erst fertiggestellten Räumlichkeiten, in denen er künftig bei der Bereitstellung von Schulunterricht und Bürgerversammlungen unterstützen möchte.
Etwas erzwungen erscheint die nicht ganz spontane Gesangseinlage einer Gruppe von Kindern, die „Bruder Jacob“ in unterschiedlichen Sprachen intonieren und sich eins nach dem anderen per Handschlag vorstellen. Mach dich gefasst, im Gegenzug ebenfalls etwas vorzutragen; unsere unbeholfene Interpretation von „Alle meine Entchen“ schien die Kinder jedenfalls sehr zu amüsieren.
Penjaringan ist die letzte Station der Tour. Vergleichbar mit den Behausungen am Stausee entstand dieses Quartier entlang eines Bahndamms. Alle 30 Minuten zittern die Holzwände, wenn ein Zug über die wenigen Meter entfernten Gleise scheppert. Die Gleise Trennen die beiden Wohnquartiere links und rechts des Bahndamms, bei deren Querung es immer wieder vorkommt, dass Personen dem Zug zu spät ausweichen und schwer verletzt oder getötet werden. Die Unterkünfte sind so dicht an dicht gedrängt, dass kaum natürliches Licht in die engen Gassen fällt. Ohne die provisorisch angeschraubten Lampen würde man hier die eigene Hand vor Augen nicht erkennen.
Eine junge Frau lädt in ihre „Wohnung“ ein, die diesen Namen nicht verdient. Für mehr als ein Regal und ein paar Kissen ist kein Platz in dem Zimmer, das für vier Besucher einfach zu klein ist. Die alleinerziehende Mutter wohnt hier mit ihren beiden Söhnen, die ganz fasziniert von den Buntstiften sind, die wir als Gastgeschenke für die Kinder mitgebracht hatten. Dass es hier nicht am Schönen, sondern vor allem am Nützlichen fehlt, wird deutlich als wir erfahren, dass die Familie sich über ein Stück Seife oder Zahnpasta gefreut hätte.
Direkt an den Bahngleisen stellt Ronny den Betreiber eines kleinen Kiosks vor, der derzeit besonders stolz ist, seiner Tochter seit kurzem ein Studium an einer der Universitäten Jakartas ermöglichen zu können.
Wir sollen unbedingt die Salakfrucht aus seiner Auslage probieren. Mit den neugierigen Kindern teilen wir die süß-herbe Frucht, bevor wir das Quartier durch die engen Gänge wieder Richtung Altstadt verlassen, um den Tag mit Ronny und Anneke noch einmal zu rekapitulieren.
Die Moralfrage
Slums sind sicherlich keine Attraktion, die du mal gesehen haben solltest. Daher gehst du mit Jakarta Hidden Tours auch nicht einfach los und schaust dir Armut an. Ronny und Anneke liefern vor Beginn der Tour einiges an Kontext, den es braucht, um die Wohnquartiere ihrer Mitbürger einigermaßen sensibilisiert zu betreten. Sie machen eindrücklich darauf aufmerksam, dass die Realität für viele Bewohner Jakartas so ganz anders aussieht als das, was sich im Stadtzentrum abspielt. Im rasant wachsenden Jakarta scheint es für viele Bewohner der Stadt nämlich keinen Platz mehr zu geben; es sei denn, sie haben es zum Beispiel als Reinigungskraft in eines der Hotels geschafft. Das ins Bewusstsein zu rufen, ist der Verdienst von Ronny und Anneke.
Laut Ronny gehen 50 Prozent der Einnahmen aus den Hidden Tours direkt an die Bewohner der besuchten Slums. Im Zentrum seiner Aktivitäten stehen die drei „E’s“ – Emergency, Education, Empowerment. Auf Nachfrage erfahren wir, dass darunter beispielsweise Arztbesuche, informeller Schulunterricht und Kleinstkredite zu verstehen sind.
Was davon tatsächlich umgesetzt wird und wie nachhaltig Jakarta Hidden Tours ist, lässt sich aber leider nicht nachvollziehen. Hier muss man den Aussagen von Ronny und Anneke Glauben schenken, denn tatsächlich greifbare Projekte sieht man nicht.
Offensichtlich ist, dass die beiden langjährige Beziehungen zu den Familien in den Armutsvierteln aufgebaut haben. Sie kennen deren Geschichten, ihre Probleme und Ängste. Die Bewohner freuen sich über den Besuch und heißen dich als Gast von Ronny und Anneke sehr herzlich willkommen. Als guter Gast kommst du natürlich nicht ohne Gastgeschenk! Schon bei der Anmeldung zur Tour erfährst Du, dass nützliche Dinge wie Seifen, Zahnbürsten und Schulmaterialien dringend benötigt werden.
Insbesondere die Kinder, aber auch einige Erwachsene, haben großes Interesse an den ausländischen Besuchern, stellen viele Fragen und erzählen aus ihrem Leben. Ronny und Anneke fungieren dabei als Übersetzer.
Natürlich bist und bleibst du hier Tourist. Zu keinem Zeitpunkt hatten wir aber das Gefühl, voyeuristisch oder unerwünscht zu sein – im Gegenteil: Einige Bewohner möchten dir unbedingt ihr Zuhause zeigen, laden dich zu sich ein und zeigen dir stolz die wenigen Quadratmeter, die sie sich mit der ihrer Familie teilen.
Rückblickend sind wir dennoch zwiegespalten, denn die Hidden Tours sind in jedem Falle skuril: Angefangen bei Ronnys „Website“ (siehe unten) über den informellen Treffpunkt in einem Restaurant bis hin zum Ablauf der Tour selbst. Es gibt eigentlich kein erkennbares Programm und vieles wirkt ebenso improvisiert wie die Lebensumstände der Slumbewohner, die wir dabei kennenlernten.
Ronny hat viele Pläne für die Zukunft und betont, wie sehr die Bevölkerung Jakartas auf informelle Hilfestellungen wie die Hidden Tours angewiesen sei, um die Versäumnisse der Stadtverwaltung zu kompensieren. Aus unserer Sicht würde sein Projekt bestimmt an Glaubwürdigkeit gewinnen und größere Nachfrage erfahren, wäre transparent dokumentiert, was bisher konkret umgesetzt wurde.
Allerdings macht es auch gerade den Charakter der Hidden Tours aus, quasi als Grassrootsbewegung unter dem Radar zu laufen. Ronny und Anneke legen den Finger in die Wunde, indem sie auf den Kontrast zwischen den schönen Touristenzielen und jenen Seiten Jakartas aufmerksam machen, die Besuchern der Megacity in der Regel verborgen bleiben (sollen). Wir halten die Tour jedenfalls für unterstützenswert – sei es nur, um den Bewohnern der Armutsviertel zu zeigen, dass sich jemand für ihre Interessen einsetzt.
Buchung und Kosten
Auf realjakarta.blogspot.com hat Ronny einige Infos zu Jakarta Hidden Tours zusammengetragen. Lass dich von der unübersichtlichen Internetseite und dem schlechten Englisch nicht abschrecken; hier findest Du die kommenden Termine der Hidden Tours. Zur Buchung kontaktierst Du Ronny per E-Mail. In der Regel meldet sich Ronny vorab mit einer Art Fragebogen zu Deiner Person und zu Deinen Erwartungen an die Tour. Außerdem fasst er noch einmal alle wichtigen Infos Deiner Reservierung zusammen.
Jede Tour wird sowohl morgens um 8 Uhr als auch am Nachmittag um 13 Uhr angeboten. Alle Touren kosten 50 US-Dollar – Ronny selbst sieht dieses Geld als „Spende“. Natürlich kannst Du auch in indonesischen Rupiah bezahlen, in jedem Falle aber bar vor Beginn der Tour.
Text und Fotos: Maike und Roman Pauli
Maike und Roman verschlug es 2015 zum ersten Mal nach Südostasien. Seitdem sind beide süchtig nach Papaya-Salat und packen jedes Jahr aufs Neue die Rucksäcke auf der Suche nach Zielen jenseits des Pauschaltourismus.